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Stadtgeschichte Seelze
"Stadt" Seelze: da denkt man, wenn es um Geschichte geht, an mittelalterliche Urkunden auf brüchigem Pergament, an ledergebundene Bürgerverzeichnisse, Zunftordnungen und dergleichen mehr. - Nichts davon in Seelze. Denn "Stadt" heißt Seelze erst seit 1977, nachdem die niedersächsische Verwaltungs- und Gebietsreform drei Jahre zuvor aus elf Dörfern eine Großgemeinde geformt hatte.
Die Geschichte von Dörfern ist zumeist anonyme Geschichte; keine Heldengestalten, kaum herausragende Persönlichkeiten, keine Haupt- und Staatsaktionen. Da ist es schon etwas Besonderes, wenn ein Geistlicher aus dem Edelherrengeschlecht von Velber im 13. Jahrhundert Bischof von Osnabrück wird oder der letzte hannoversche König Georg V. 1864 das Kirchwehrener Schützenfest besucht, woran bis heute ein runder Steintisch und eine Erinnerungstafel an der "Königseiche" nahe dem dortigen Forsthaus erinnern.
Der Ursprungsbau der kleinen velberschen Kapelle hat im Mittelalter vermutlich zum Hof der Edelherren von Velber gehört.
Das Obentrautdenkmal
Zu nennen wäre auch ein Gefecht zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, welches zwar für den Kriegsverlauf kaum Bedeutung hatte, Seelze aber sein Obentrautdenkmal beschert hat. Die Sandsteinpyramide des hannoverschen Bildhauers Jeremias Sutel aus dem Jahr 1630 erinnert daran, daß der Reitergeneral Michael von Obentraut, genannt der deutsche Michel, im Herbst 1625 auf dem Schlachtfeld südlich Seelzes tödlich verwundet wurde. Das früher weithin sichtbar an der Chaussee vor dem Dorfe stehende Denkmal, um das der Ort inzwischen herumgewachsen ist, wurde zu einer Art Seelzer Wahrzeichen.
Das 1630 von Jeremias Sutel errichtete Denkmal für den 1625 bei Seelze gefallenen Michael von Obentraut, hier nach einer Ansichtskarte um 1910
Bauern und Handwerker
Elf Dörfer: von A wie Almhorst bis V wie Velber, westlich von Hannover und südlich der Leine im Calenberger Land gelegen (früher einmal ,Fürstentum Calenberg'), mit vielen Gemeinsamkeiten in Geschichte und Gegenwart, doch auch mit manchem, was sie unterscheidet. Allesamt waren sie vom Mittelalter bis wenigstens zur Jahrhundertwende 1900 kleine Bauerndörfer, die Bevölkerung (um 1900 etwa 5.000 Menschen) lebte von der Landwirtschaft und ländlichem Handwerk.
Bis zum 1. Weltkrieg typisch für die Seelzer Dörfer: eine kleinbäuerliche Familie in Almhorst um 1912.
Johann Egestorff aus Lohnde
In einem dieser Dörfer, in Lohnde, wurde 1772 als Sohn eines Leinefischers und Kleinbauern Johann Egestorff geboren. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurde er zur ersten überragenden Unternehmerpersönlichkeit im Raum Hannover, bekannt als der "Kalkjohann". Er konnte kaum lesen und schreiben und brachte es doch bis zum reichsten Mann im nahen Linden (heute ein Stadtteil Hannovers), wo er seine ,Karriere' als kleiner Pächter einer Kalkbrennerei am Lindener Berge begonnen hatte. Sein Sohn Georg Egestorff gründete in den 1830er Jahren die Lindener Maschinenfabrik und Eisengießerei, die später weit über Hannovers Grenzen hinaus bekannte "Hanomag", und wurde zu einem der größten Lokomotivbauer Deutschlands.
Dampflokomotive ,Ernst August' aus der Fabrik von Georg Egestorff, dessen Großvater ein Kleinbauer und Leinefischer in Lohnde gewesen war.
Eisenbahn und Industrie
Doch zurück nach Seelze. Die Weichen für einen gravierenden Strukturwandel sind hier 1847 gestellt worden. Weichen im unmittelbaren Wortsinn, denn in jenem Jahr wurde die Eisenbahn von Hannover nach Minden eröffnet, die am Rande der Leineaue südlich von Letter, Seelze, Lohnde und Gümmer entlanglief - und das Dorf Seelze erhielt die damals einzige Haltestelle zwischen Hannover "Centralbahnhof" und Wunstorf. Schon bald siedelten sich im Einzugsbereich des Seelzer Bahnhofs vermehrt Handwerker (vor allem Schuhmacher und Schneider) an, die mit Hilfe des neuen Verkehrsmittels ihren Kundenkreis vergrößern konnten. Und Anfang des 20. Jahrhunderts hielt auch die Industrie in Seelze Einzug, schuf Hunderte von Arbeitsplätzen und löste einen Bauboom aus.
Der alte Seelzer Bahnhof nach einer Ansichtskarte 1899. Seinerzeit war dies die einzige Haltestelle zwischen dem Hauptbahnhof Hannover und Wunstorf
Ein ganzes Stück westlich des alten Dorfes Seelze (am rechten Bildrand oben) entstanden um 1900 die chemische Fabrik von Eugen de Haën, eine Arbeiterkolonie mit 96 Wohnungen und viele weitere Wohnhäuser. Die Industrieansiedlung setzte einen tiefgreifenden Strukturwandel in Gang.
1902 nahmen die Continental-Gummiwerke Hannover ein Zweigwerk in Seelze in Betrieb. Es befand sich östlich des Dorfes an der Straße nach Letter, wurde aber schon 1931 in der Weltwirtschaftskrise wieder geschlossen und im Jahr darauf abgerissen
Rangierbahnhof und Mittellandkanal
Die meisten der Dörfer, die heute Seelzer Stadtteile sind, blieben von diesen Veränderungen zunächst fast unberührt. Ein einschneidender Wandel, der mit einem rasanten Anstieg der Einwohnerzahlen einherging, blieb anfangs weitgehend auf Seelze und Letter beschränkt. Hier wurde 1909 auch einer der größten deutschen Rangierbahnhöfe in Betrieb genommen. Bis 1916 wurde als weiterer ,Standortfaktor', wie man heute sagen würde, der hiesige Abschnitt des Mittellandkanals fertiggestellt, der zusammen mit dem Zweigkanal von Lohnde bis zum Lindener Hafen (Hannover) das Erscheinungsbilds Seelzes entscheidend mit prägt. Der Hauptkanal wechselt bei Seelze auf das Gebiet der Nachbarstadt Garbsen hinüber und überquert dabei die Leine in einer sehenswerten denkmalgeschützten Trogbrücke; der Zweigkanal nach Linden wird heute zumeist von Freizeitkapitänen genutzt, denen auch zwei Yachthäfen zur Verfügung stehen.
Ein Ablaufberg des Rangierbahnhofs in den 1930er Jahren. Der 1909 in Betrieb genommene Seelzer Rangierbahnhof veränderte vor allem das östlich angrenzende Dorf Letter nachhaltig. Dort entstanden neue Wohngebiete mit Hunderten von Wohnungen, die erst allmählich mit dem alten Bauerndorf entlang dem Leineufer zusammenwuchsen
Bau des Mittellandkanals 1912 (hier Zweigkanal zum Lindener Hafen südlich von Seelze). Nach der chemischen Fabrik de Haën, dem Gummiwerk der Continental und dem Rangierbahnhof war dies Anfang des 20. Jahrhunderts die vierte Seelzer Großbaustelle
Verdichtung und Zentrumsentwicklung im Norden
Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren also die Entwicklungen eingeleitet, die der Stadt Seelze heute ihr charakteristisches Gepräge geben. 1925 lebten im heutigen Stadtgebiet knapp 10.000 Menschen, doppelt soviele wie 25 Jahre zuvor, davon schon mehr als die Hälfte in Seelze und Letter. (2018 hatte die Stadt über 35.000 Einwohner/innen, wovon rund zwei Drittel in Letter und Seelze konzentriert sind.) Eisenbahn, Kanal und Bundesstraße (441) durchlaufen das Stadtgebiet als gebündelte Lebensadern in Ost-West-Richtung und berühren fünf von elf Seelzer Stadtteilen. Diese beherbergen heute auf einem Drittel der Seelzer Fläche über 80 Prozent der Gesamtbevölkerung, wobei sich das namengebende frühere Dorf Seelze immer mehr zu einem echten Zentrum entwickelt.
Seit 2001 wird südlich an die Kernstadt angrenzend das Baugebiet Seelze-Süd entwickelt, das im Sommer 2019 schon über 2.600 Menschen eine neue Heimat geworden ist und weiter wächst.
Ländlich-dörflicher Süden
Die sechs weiter südlich gelegenen Dörfer konnten zumindest optisch ihren ländlich-dörflichen Charakter größtenteils bewahren, wenngleich der allgemeine Strukturwandel ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts natürlich auch hier tiefe Spuren hinterlassen hat. Bauerndörfer im ursprünglichen Wortsinn gibt es im Calenberger Land heute nirgends mehr. Was im Erscheinungsbild geblieben ist, sind liebevoll renovierte alte Fachwerkhäuser, verbunden mit dörflich-nachbarschaftlicher Überschaubarkeit, eingebettet in eine abwechselungsreiche Landschaft, die zum Wandern und Radfahren einlädt.
Norbert Saul, Stadtarchiv
Haben Sie noch Fragen? Möchten Sie noch weitere Informationen? Dann schauen Sie doch mal im Heimatmuseum Seelze vorbei. Oder wenden Sie sich an das Stadtarchiv.